Im Rahmen unsere Kinder- und Jugendhilfsangebote arbeiten wir mit vielen Familien und wenden dabei unterschiedliche Techniken an, um die Kommunikation und das Verständnis innerhalb der eigenen Familiendynamik zu fördern. Einer dieser Techniken sind Skalierungsfragen. Sie sind ein Werkzeug aus dem systemischen Methodenkoffer, das es ermöglicht, komplexe emotionale Zustände oder Einschätzungen abzubilden. Es erlaubt den Familienmitgliedern Gefühle, Wahrnehmungen oder Erwartungen auf einer Skala von 0 bis 10 zu bewerten. Beteiligte können so über Dinge sprechen, die sonst schwer in Worte zu fassen sind. Insa Sparrer beschreibt diese Methode als "pragmatisch spezifisch", weil sie es den Menschen erlaubt, etwas zu kommunizieren, ohne dass der Inhalt vollständig offenbart werden muss.
Wir setzen Saklierungsfragen immer dann ein, wenn wir die individuellen Wahrnehmungen von Kindern und Eltern erkunden möchten. Sie können einfach in ein Gespräch eingebaut oder auch visuell in Szene gesetzt und als Basis für weiteren zielgerichteten Austausch eingesetzt werden. In diesem Blogbeitrag beschreiben wir, wie wir Skalierungsfragen in der Aufsuchenden systemischen Familientherapie (AFT) in einer größeren Familie eingesetzt haben.
"Heute wollen wir auf eine andere Art und Weise mit euch ins Gespräch kommen" leiteten wir den Termin in der Familie ein. "Ihr seid eine große Familie und wir haben gemeinsam schon viel erarbeitet und besprochen. Jetzt wollen wir genauer wissen, wie es euch heute geht, im Gegensatz zu vor ein paar Wochen, bevor wir als Familientherapeutinnen zu euch nach Hause gekommen sind. Dafür haben wir Plakate vorbereitet und euch Stifte mitgebracht. Jeder kann für sich eine Farbe auswählen und damit nachher etwas auf dem Plakat eintragen".
Alleine die Aussicht darauf, dass heute nicht nur am Tisch gesessen und geredet wird, schaffte eine andere Atmosphäre. Die Kinder freuten sich und waren gespannt, welche Aufgabe sie erwartet. Aufgrund der Familiengröße und den Hang dazu, sich gegenseitig zu unterbrechen und in Diskussionen zu vertsricken, haben wir die Familie gestaffelt befragt. Zunächst nur die Eltern und danach jedes Kind einzeln.
Die Familienmitglieder sollten auf einer Skala von 0 bis 10 unsere vorgegebenen Fragen einschätzen. 0 steht für "gar nicht zutreffend/vorhanden" und 10 für "voll und ganz zutreffend/vorhanden". Für die Eltern hatten wir ein separates Plakat vorbereitet. Sie sollten darauf den Umgang mit den Kindern und sich als Erziehungspartner einschätzen.
Zu sehen ist, dass die Eltern die Fragen nahezu deckungsgleich mit einer hohen Zahl bewertet haben (Bild 1). Aus elterlicher Sicht alleine schienen alle Ziele, die mit unserer Hilfe bearbeitet werden sollten, erreicht. Erst durch die Perspektivenerweiterung der Kinder, konnte dieses Abbild nochmals abgeglichen und auf aktuelle Bedarfe der Kinder überprüft werden (Bild 2).
Bei den Kindern nahmen wir uns Zeit, die Aufgabe gut zu erklären und sie zu ermutigen, die Fragen aus dem Bauch heraus, ohne viel zu überlegen, einzuschätzen. Skalierungsfragen sprechen das intuitive Gefühl an und sind daher für Kinder leicht zugänglich.
Auffallend unterschiedlich waren die Bewertungen der Eltern und Kinder bei den Fragen 1 und 4. Während die Eltern das Gefühl hatten, gut Abschied von unserer Hilfe nehmen zu können, reagierten die Kinder mit größerem Widerstand. Einzelgespräche mit den Kindern ergaben, dass sie jeweils noch eigene Themen haben, die sie mit uns besprechen möchten und unsicher sind, wie lange die jetzigen Strukturen und Entwicklungen in der Familie halten würden.
Der nachfolgende Dialog fand zwischen uns Familientherapeutinnen und der ältesten Tochter statt. Er zeigt exemplarisch, wie wir die Skalierungsfragen als Basis für weiteren Austausch nutzen und Schritt für Schritt aufdecken können, welche Themen die Tochter bewegen.
"Du hast bei der letzten Frage sogar eine Zahl im Minusbereich eingetregen. Du scheinst dich also überhaupt nicht bereit für ein Ende unserer Hilfe zu fühlen. Kannst du uns das ein bisschen genauer erklären?" wollten wir von dem Mädchen wissen.
„Das mit dem Minusbereich ist eher so ein Ausdruck dafür, dass ich Sie beide einfach sehr nett finde und es immer angenehm ist, wenn Sie zu uns nach Hause kommen. Und das wäre sehr schade, wenn das jetzt aufhört. Außerdem finde ich, dass wir als Geschwister sehr viel streiten. Mit meiner Schwester geht es gerade ganz gut, aber mit meinem Bruder ist es eher schlimmer geworden in letzter Zeit“.
„Wir kommen auch sehr gerne zu euch und freuen uns, dass wir auf jeden Fall noch einige Wochen für euch da sein können. Machen wir mal ein Gedankenspiel. Angenommen, es würde dir ein klitze kleines bisschen besser gehen mit dem Ende unserer Hilfe: Hättest du da eine Idee, was für dich passieren müsste, um aus dem Minusbereich herauszukommen und wenigstens auf eine, sagen wir mal, 2 oder 3 zu kommen“
Wir sind vorerst nicht auf das geschilderte Problem des Geschwistertsreits eingegangen. Zum einen, weil wir nicht in eine Problemtrance abschweifen wollten und zum anderen, weil uns wichtig war zu erfahren, was dem Mädchen individuell helfen würde, in einen besseren Zustand zu kommen. Die Skala hilft, sich diesem Zustand gefühlsmäßig anzunähern und zu überlegen, was erste kleine Schritte in Richtung dieser Besserung wären.
„Schwer zu sagen. Ich denke, wenn es insgesamt besser laufen würde, hätte ich auch nicht so ein Problem damit, wenn Sie irgendwann weniger oder gar nicht mehr kommen. Aber momentan glaube ich nicht, dass wir es auf längere Zeit alle selbst schaffen, dass hier zu Hause alles so stabil bleibt, wie es jetzt ist“.
Wir merken, dass die Tochter in der Problemtrance bleibt und dass es ihr schwer fällt, einen Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen zu finden. Wir versuchen deshalb über Konkretisierungsfragen näher an ein Bild zu kommen, woran die Tochter eine Besserung merken würde.
„Woran würdest du denn merken, dass die Familie soweit ist, sich selbst auf Dauer stabil zu halten? Was wäre dann anders für dich“?
„Ich würde weniger mit Mama streiten. Ich würde ihr gerne helfen, dass es hier zu Hause einfacher wird. Aber so sehr ich es auch versuche, es ändert nichts. Außerdem hätte ich mehr Zeit für mich und die Geschwister würden mich nicht so oft im Zimmer stören. Ich weiß nicht, irgendwie habe ich keinen Glauben daran, dass es sich ändern könnte. Wir geraten einfach immer wieder aneinander. Alle zusammen. Ich finde nicht, dass sich da in letzter Zeit wirklich was gebessert hat“.
„Und das erklärt wahrscheinlich auch, weshalb du bei Frage 1 und 2 auch ganz niedrige Werte angekreuzt hast“
„Ja“.
Wahrscheinlich kann das Mädchen derzeit nicht in Worte fassen, was passieren müsste, damit sie sich gut von unserer Hilfe lösen kann. Manchmal passiert es, dass sich die Befragten keine Bewegung auf der Skala vorstellen können. Systemisch gesehen ist das weder eine Sackgasse noch ein Fehlanleiten der Methode. Ganz im Gegenteil ist es ein aufschlussreiches Ergebnis, denn es bildet den derzeitigen emotionalen Zustand der Befragten ab. Da das Mädchen bei dieser Frage nicht weiter kam, haben wir diese Skala verlassen und das Gespräch auf die anderen Fragen gelenkt.
„Hast du denn konkrete Beispiele dafür, wie das ist, wenn die Kommunikation in der Familie schlecht läuft oder Respekt fehlt“?
„Ich würde ja gerne, dass es besser wird, aber ich weiß nicht, was ich noch tun kann. Ständig habe ich das Gefühl, alles falsch zu machen oder Mecker für Sachen zu kriegen, für die ich nichts kann; wo ich gar nichts gemacht habe. Vor allem bei meinem Bruder. Wenn ich zum Beispiel mit ihm alleine zu Hause bin, passe ich auf ihn auf. Wenn er dann Sachen macht, die er nicht soll, aber nicht auf mich hört, kriege ich den Stress ab. Und dann habe ich kaum Möglichkeiten, hier mal wegzugehen oder einfach für mich zu sein. Eine andere Sache ist, dass es oft Streit mit Papa gibt. Dann ignoriert er mich und die Stimmung hier ist dann einfach schlecht. Und dann mache ich mir wieder Vorwürfe, dass ich nichts dazu beitragen kann, dass es hier zu Hause besser wird. Aber ich finde es auch ungerecht, wenn ich seinen Launen ausgelifert bin“.
Die Erzählung der Tochter zeigte uns einerseits, wie stark sie in der negativen Situation gefangen ist und dass es ihr schwer fällt, ein positives Gegenbild von ihrer Position in der Familie zu zeichnen. Andererseits bekamen wir Hinweise darauf, dass die Tochter in Konflikte vertrickt ist, die sie allein nicht lösen kann. Nach diesem Gespräch gab es mehrere Punkte, an denen wir weitergearbeitet haben:
Ist es nötig, dass sie mit dem Bruder alleine zu Hause ist (mit dem sie sich momentan sowieso schlecht versteht)? Wie wird damit umgegangen, wenn der kleinere Bruder Fehlverhalten zeigt? Wo übernimmt die Tochter Verantwortung, die nicht zu ihr gehört (Entlastung der Mutter, für gute Stimmung zu Hause sorgen)? Wie kann der Vater im Konflikt dennoch in gutem Kontakt mit seiner Tochter bleiben? Welche Möglichkeiten können geschaffen werden, dass die Tochter mehr Zeit für sich allein bekommt?
Die unterschiedlichen Bewertungen öffneten die Tür für tiefere Gespräche darüber, welches Kind welchen Unterstützungsbedarf hatte. Es wurde deutlich, dass die Eltern große Fortschritte darin sahen, den familiären Alltag zu strukturieren, während die Kinder jedoch nach mehr Empathie und Anerkennung ihrer Bemühungen verlangten.
Durch die Verwendung der Skalierungsfragen konnten wir diese Unterschiede nicht nur identifizieren, sondern auch konkrete Schritte entwickeln, um die Familiendynamik insgesamt zu verbessern.
Skalierungsfragen sind also ein mächtiges Werkzeug in der systemischen Familientherapie, weil sie es ermöglichen, subjektive Erfahrungen messbar und besprechbar zu machen. Sie fördern das Verständnis innerhalb des Familiensystems und helfen, spezifische Ansatzpunkte für Veränderungen zu identifizieren.
Maria Strobel und Katharina Schulz vom Lebensnah-Team
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